Heinrich Dickmann und seine Frau Änne (Foto: Jehovas Zeugen, Archiv Zentraleuropa)

Der "offene Brief" der Zeugen Jehovas vor 85 Jahren

Eine Opfergruppe des Nationalsozialismus, welche wenig in der öffentlichen Wahrnehmung vorkommen, sind die als „Bibelforscher“ verfolgten Zeugen Jehovas.

Am 20. Juni 2022 jährt sich das Datum einer konzertierten reichsweiten Protestaktion von Jehovas Zeugen gegen das damalige NS-Regime zum 85. Mal. Bei dieser Kampagne im Jahr 1937 wurden an einem Tag Zehntausende von Exemplaren des sogenannten „Offenen Briefes“ in ganz Deutschland verteilt. Darin beschrieben Jehovas Zeugen deutlich die brutalen Verfolgungspraktiken der Nationalsozialisten – unter genauer Nennung von Namen und Orten – sowie die grausamen Zustände in den Gefängnissen, Zuchthäusern und Konzentrationslagern.

Zur Zeit des Nationalsozialismus gab es in Deutschland und den von den Nationalsozialisten besetzten Gebieten etwa 35.000 Zeugen Jehovas. Während des NS-Regimes wurden viele Angehörige dieser Religionsgemeinschaft, die u. a. den „Deutschen Gruß“ und den Wehrdienst verweigerten, inhaftiert und in Konzentrationslager deportiert. Ein Beispiel dafür ist der Zeuge Jehovas Heinrich Dickmann aus Dinslaken. Bereits 1935 wurde er wegen Verweigerung des Hitlergrußes verhaftet. Nach seiner Freilassung organisierte Dickmann die Verteilung des „Offenen Briefes“ in seiner Heimat und wurde dafür zehn Tage später wieder verhaftet. Zwischen 1939 und 1945 war Dickmann in den Konzentrationslagern Sachsenhausen, Niederhagen (Wewelsburg), Buchenwald und Ravensbrück inhaftiert. Er überlebte, musste jedoch mitansehen, wie sein Bruder August im September 1939 im KZ Sachsenhausen als erster Kriegsdienstverweigerer öffentlich hingerichtet wurde. Insgesamt kamen etwa 1.600 Zeugen Jehovas bei der NS-Verfolgung ums Leben.

Mit der Aufklärung über den verbrecherischen Charakter des NS-Staats durch diese und andere Flugblattaktionen habe sich die Glaubensgemeinschaft auch über die Verteidigung ihrer Interessen hinaus gegen das Unrechtregime engagiert, äußerte der Antisemitismusforscher Professor Dr. Wolfgang Benz. Historiker:innen sprechen von Mut, Haltung und Zivilcourage, die Jehovas Zeugen mit ihren Flugblattaktionen bewiesen haben.

Die Historikerin Dr. Elke Imberger bezeichnete die Flugblattaktion vom 20. Juni 1937 auch aufgrund ihrer deutschlandweiten Umsetzung an einem Tag als „spektakulär“: „Während der ganzen NS-Zeit gab es in Deutschland keine andere Widerstandsorganisation, die eine vergleichbare Initiative durchführte.“

Die Historikerin Sabine Schalm erklärte in einem Radiointerview, dass sie die Flugblattaktion und auch das Thema Widerstand von Jehovas Zeugen im Nationalsozialismus heute für ein wichtiges Thema halte. Mit einem neuen Mahnmal will die Bundesregierung künftig an die NS-Opfer unter den Zeugen Jehovas erinnern. 

In Russland wiederholt sich aktuell unterdessen teilweise die Geschichte nach dem Motto „Vorwärts in die Vergangenheit!“. Kurz vor dem Verbot der Religionsgemeinschaft dort wandten sich Jehovas Zeugen aus der ganzen Welt im Frühjahr 2017 in einer Briefaktion an die russische Regierung. Seitdem informieren Jehovas Zeugen die Öffentlichkeit regelmäßig über die Missachtung grundlegender Menschenrechte in Russland – durch Pressemitteilungen und durch Berichte auf ihrer offiziellen in über 1.000 Sprachen verfügbaren Website.

Auch in Krefeld wurden 48 Menschen aufgrund Ihrer Glaubenszugehörigkeit zu den Zeugen Jehovas angeklagt, verurteilt und oftmals nach Verbüßung der verhängten Strafe in „Schutzhaft“ genommen. einige starben dort, andere wurden zum Tode verurteilt und hingerichtet.

Das gibt es sonst noch Neues in der Villa Merländer: