Tienray (NL)

Die Kinder der Hanna van de Voort

1943/44 bekamen 123 jüdische Kinder die Möglichkeit in der Umgebung von Tienray unter falscher Adresse unterzutauchen. Diese Aktion wurde von der Säuglingsschwester Hanna van der Voort und dem bereits untergetauchtem Studenten Nico Dohmen organisiert.

Die Kinder wurden einzeln aus einer Krippe herausgeschmuggelt, die direkt gegenüber dem Holländischen Theater in Amsterdam lag. Nach der Ankunft in Limburg kamen sie zu der Familie van der Voort. Dort mussten die Kinder erstmal eine Geschichte einstudieren, wo sie her kamen – falls man sie ausfragte. Sie sollten erzählen, dass sie durch das deutsche Bombardement auf Rotterdam im Mai 1940 zu Waisen geworden wären. Um ihren jüdischen Hintergrund zu tarnen, bekamen die Kleinen außerdem neue Namen.

Danach wohnten sie bei Familien in der Umgebung. Die Aufnahmefamilien setzen sich damit selbst großer Gefahr aus: Juden zu helfen war durch die Besatzer streng verboten! Und die Gefahr einer Entdeckung war riesengroß. 1944 nahmen die Deutschen die Familien ins Visier. Aber auch die Erwachsenen konnten nichts anderes erzählen, als dass die Kinder aus Rotterdam gekommen wären.

Hanna van de Voort wurde gefangengenommen. Für einige Zeit musste sie in das Konzentrationslager Herzogenbusch. Sie kam zwar wieder frei, aber ihre Gesundheit war so angeschlagen, dass sie 1956 noch an den Spätfolgen der Gefangenschaft starb.

Die meisten Kinder der Hanna van de Voort überlebten die Kriegsjahre. Hanna van de Voort und Nico Dohmen wurden 1987 durch die israelische Gedenkstätte Yad Yashem als „Gerechte unter den Völkern“ geehrt.

Das Denkmal für Hanna van de Voort mitten in Tienray ist eine Figurengruppe aus Bronze. Drei Mädchen suchen scheinbar Schutz unter tief über das Gesicht gezogenen Kapuzencapes. Die Gruppe wurde von der Bildhauerin Elly van den Broek entworfen.

Die Kinder der Hanna van de Voort in Tienray

Das Denkmal für Hanna van de Voort ist eine bronzene Personengruppe aus drei Kindern, die sich mit Kapuzencapes scheinbar vor Regen und Kälte schützen. Der erklärende Text dazu lautet in der deutschen Übersetzung: „Viele jüdische Kinder fanden hier Schutz vor Verfolgung während des Zweiten Weltkrieges.“

Dahinter verbirgt sich eine fast unglaubliche Geschichte. 1943/44 brachte eine Widerstandsgruppe aus der Umgebung von Tienray 123 jüdische Kinder in Verstecken unter. Die wichtigsten Personen in dieser Organisation waren die Gemeinde- und Säuglingsschwester Hanna van de Voort, der bereits im Versteck lebende Student Nico Dohmen aus Nimwegen und der ebenfalls untergetauchte Kurt Loewenstein.

Die meisten Kinder waren einzeln aus einer Kinderkrippe herausgeschmuggelt worden, die sich gegenüber dem holländischen Theater (Hollandsche Schouwburg) in Amsterdam befand. Das Theater war damals der Ort, an dem sich die Amsterdamer Juden auf Befehl der deutschen Besatzer versammeln mussten. Von dort aus deportierten sie die Juden. Die Rettungsaktion aus der Kinderkrippe wurde, mit Hilfe aus der Einrichtung, durch Mitglieder einer Amsterdamer Studentengruppe organisiert. Es handelte sich um einen Widerstandskreis, der durch Peter Meerburg koordiniert wurde. Die blonden Kinder gingen nach Friesland. Die dunkelhaarigen schickte man lieber in Richtung Süden.

Nachdem ein Kind mit dem Zug nach Venray oder Venlo gebracht worden war, ging es mit dem Bus weiter nach Tienray. Dort blieb es erst einige Tage bei der Familie von Hanna van de Voort zu Hause. Um die ganze Aktion nicht unnötig in Gefahr zu bringen, war es wichtig, den jüdischen Kindern einige Dinge beizubringen.

So lernten sie unter anderem etwas über katholische Sitten und Gebräuche. Außerdem mussten sie sich eine Geschichte merken, wo sie angeblich herkamen – für den Fall dass man sie als versteckte Juden verdächtigte. Sie sollten dann erzählen, dass sie durch das deutsche Bombardement von Rotterdam im Mai 1940 zu Waisen geworden waren. Die Kinder bekamen – was nicht unwichtig war – auch einen neuen Namen. Damit sollte ihre jüdische Herkunft getarnt werden. Der neue Name stand auf einem gefälschten Ausweis der Zentralen Erziehungsbehörde, die sich mit der Unterbringung der Flüchtlinge nach der Bombardierung von Rotterdam beschäftigte.

Nach der ersten Betreuung durch van de Voorts wurden die Kinder heimlich in Familien in der weiteren Umgebung untergebracht. Das Gebiet erstreckte sich über die ganze Provinz Limburg nördlich von Venlo. Hanna van de Voort kannte durch ihre Tätigkeit als Hebamme viele Familien und die Familien kannten sie. Das war wichtig für das gegenseitige Vertrauen. Die Aufnahmefamilien setzten sich selbst nämlich großer Gefahr aus: Hilfe für Untergetauchte war durch die Besatzer strengstens verboten!

In Zeiten des Mangels und der überwachten Verteilung von Lebensmitteln war es für die Aufnahmefamilien keine leichte Aufgabe zusätzliche Mäuler zu stopfen. Es war darum unerlässlich, dass man sie mit Lebensmittelkarten und anderen Notwendigkeiten versorgte. Das konnte nur illegal geschehen und war eine Aufgabe für den Widerstand.

Die untergetauchten Jungen und Mädchen wurden als normale Familienmitglieder aufgenommen. Es war nicht die Zeit, sich lange mit ihren persönlichen Verlusten zu beschäftigen. In vielen Fällen sollten die Kinder ihre natürlichen Eltern nie mehr wiedersehen … Und dabei mussten sie sich so unauffällig wie möglich verhalten. Es war notwendig, dass sie auf der Straße spielten, in die Schule gingen und den Katechismus lernten, genau wie die anderen Kinder der Familie.

Es ist eine Geschichte von dem Jungen Samuel überliefert, der nach der Ankunft in Limburg den neuen Namen Max bekam und seinen Platz in einer Familie in Tienray fand. Die Eltern hatten drei Kinder und Max war das vierte, der jüngste Spross. Die Familie hatte einen Laden, der auch von Besatzungssoldaten regelmäßig aufgesucht wurde. Mitunter saß der kleine Max dann auf dem Schoß eines Deutschen. So kamen Täter und Opfer sich beängstigend nah. Wenn die Soldaten den wahren Hintergrund des Kindes entdeckt hätten, wäre es garantiert deportiert worden. Die Familie wäre im Konzentrationslager gelandet.

Die Wahrscheinlichkeit einer Entdeckung war riesengroß. Denn natürlich bemerkten auch die anderen Einwohner von Tienray, dass in kurzer Zeit erstaunlich viele Kinder ankamen. Es wurde allerdings nicht offen darüber gesprochen. Trotzdem ist es erstaunlich, dass eine so große Aktion während des Krieges nicht aufgedeckt worden ist.

Einmal wäre es fast soweit gewesen. 1944 wurden bei einigen Familien Hausdurchsuchungen vorgenommen, einige Männer wurden verhaftet. Aber sie konnten nichts anderes angeben, als dass die Kinder aus Rotterdam gekommen wären. Soweit bekannt ist, sind sieben jüdische Kinder entdeckt und weggebracht worden. Die meisten sind in Konzentrationslagern umgekommen.

Auch Hanna van de Voort wurde während des Krieges verhaftet und für kurze Zeit in dem Konzentrationslager Herzogenbusch, in den Niederlanden auch als „Kamp Vught“ bekannt, festgehalten. Um die Adressen der Untergetauchten aus ihr herauszubekommen, hat man sie gefoltert. Sie kam zwar frei, aber die kurze Zeit im KZ hatte ihre Gesundheit so angegriffen, dass sie an den Spätfolgen 1956 starb.

Glücklicherweise überlebten die meisten der Kinder von Hanna van de Voort den Krieg, häufig als einzige ihrer Familie. In den Jahren danach blieben viele in Verbindung mit „Tante Hanna“ und „Onkel Nico“. Hanna van der Voort und Nico Dohmen wurden für ihre Hilfe für die jüdischen Kinder von der israelischen Gedenkstätte Yad Vashem mit dem Titel „Gerechte unter den Völkern“ geehrt. Auch andere Mitglieder dieser Widerstandsgruppe wurden ausgezeichnet. Die ganze Aktion wäre ohne die richtigen Kontaktpersonen und die vielen Adressen von Verstecken in Limburg nicht möglich gewesen.

Übrigens sind auf diese Weise nicht nur jüdische Kinder gerettet worden. Auch eine Kinderschwester aus der Krippe in Amsterdam und selbst alliierte Piloten, deren Flugzeug über Limburg abgeschossen worden war, fanden über die Gruppe von Hanna van de Voort ihr sicheres Entkommen.

Die Skulptur, die sie hier sehen, wurde durch die Bildhauerin Elly van den Broek geschaffen. Sie sehen hier auch eine Plakette. In deutscher Übersetzung heißt die Inschrift:

„In Andenken an
Hanna van de Voort
(1904-1956)

und alle Kämpfer
für
Recht und Freiheit
1914-1945″

Es ist ein Denkmal bescheidener Größe für das, was Hanna und viele andere, auch an anderen Orten des besetzten Gebietes, getan haben.

Hier finden Sie den Sprechtext „Die Kinder der Hanna van de Voort in Tienray“.

Sprecher: Wolfgang Reinke
Autor: Erik van den Dungen
Übersetzerin: Dr. Ingrid Schupetta
Dieser Text darf zu privaten Zwecken gerne kopiert werden. Zur Veröffentlichung an anderer Stelle ist das Einverständnis des Autors einzuholen.

Weiterlesen:
Alexander Bakker, Dag pap, tot morgen – Joodse kinderen gered uit een crèche, Uitgeverij Verloren, 2005 (keine Übersetzung vorhanden)

Die Kinder der Hanna van de Voort
Das Denkmal steht auf dem Hanna van de Voortplein
5865 BH te Tienray.
Öffnungszeit: Das Denkmal steht auf einem öffentlichen Platz.

Erreichbarkeit mit öffentlichen Verkehrsmitteln: Mit der Bahn können Sie nach Venray-Oostrum fahren. Von dort geht der Veolia-Bus 29 Richtung Venlo ab. Aussteigen müssen Sie an der "Swolgensestraat" in Tienray. Von dort aus ist es nur ein paar Minuten bis zum "Hanna van de Voortplein".