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In Krefeld-Uerdingen erinnern seit dem 10. September 2024 zwei Stolpersteine an Dr. Hans Finkelstein und seinen Sohn Berthold Finkelstein. Entstanden sind sie durch eine Kooperation zwischen der Hans und Berthold Finkelstein Stiftung gGmbH, der Stadt Krefeld und ihrem NS-Dokumentationszentrum.
Sie sind knapp zehn Zentimeter lang, zehn Zentimeter breit und zehn Zentimeter tief – und zieren Straßen in über 30 Ländern: Mehr als 100.000 Stolpersteine hat der deutsche Künstler Gunter Demnig seit dem Jahr 1992 verlegt. Auf den kleinen Gedenktafeln stehen die Namen von Menschen, die während der Zeit des Nationalsozialismus verfolgt, vertrieben, deportiert oder ermordet wurden, inklusive ihres Geburts- und Todesdatums. Zwei von ihnen erinnern nun vor dem ehemaligen Wohnhaus der Familie an die Namensgeber der Hans und Berthold Finkelstein Stiftung.0
Der Chemiker Hans Finkelstein war der Erfinder der sogenannten Finkelstein-Reaktion. Er stammte aus einer liberalen jüdischen Familie und war Forschungsleiter bei Chemische Fabriken vorm. Weiler-ter Meer in Uerdingen, einem Unternehmen, das 1925 in der I.G. Farben aufging. Forschungsarbeiten des Historikers Rüdiger Borstel im Archiv der Bayer AG – einem der Nachfolgeunternehmen der I.G. Farben – haben offenbart, dass Hans Finkelstein das Unternehmen im Zuge der Arisierungen 1938 verlassen musste. Noch im selben Jahr nahm er sich das Leben. Sein Sohn Berthold Finkelstein musste später bei der I.G. Farben Zwangsarbeit leisten. Berthold Finkelstein war nach 1945 aktiv in der europäischen Verständigung und politischen Jugendbildung. Er ist der Gründer des Gustav-Stresemann-Instituts in Bonn. Die Biografien der Finkelsteins stehen stellvertretend für die Geschichten unzähliger Menschen, die im Nationalsozialismus Unrecht und Verfolgung erfahren mussten und oft mit dem Leben bezahlten.
„Als deutsches Unternehmen mit rund 100.000 Beschäftigten in mehr als 80 Ländern fördern wir ausdrücklich die Vielfalt von Meinungen und Lebenseinstellungen. Ebenso klar sagen wir auch: Ausgrenzung und Hass sind keine Meinung. In diesem Zusammenhang gilt für uns auch und gerade für Unternehmen die Pflicht zur Erinnerung an die Menschen, die Unrecht während der Zeit des Nationalsozialismus erfahren mussten. Wir haben im vergangenen Jahr die Hans und Berthold Finkelstein Stiftung ins Leben gerufen und damit unsere Erinnerungskultur weiter gestärkt“, betonte Matthias Berninger, Leiter des Bereichs Public Affairs bei der Bayer AG, während der Stolpersteinverlegung. „Der Blick in die Vergangenheit hilft uns zu verstehen, warum wir Ausgrenzung, Nationalismus und totalitärem Gedankengut keinen Raum bieten dürfen. Die beiden neuen Stolpersteine in Krefeld-Uerdingen tragen dazu bei, diese Mahnung und Erinnerung wortwörtlich ‚auf die Straße zu bringen‘.“
Auch Johannes Finkelstein, Enkelsohn und Sohn von Hans und Berthold Finkelstein, nahm an der Verlegung teil: “Antisemitismus und Rassismus sind nicht verschwunden, ganz im Gegenteil, die Diskriminierung nimmt zu. Das Thema Ausgrenzung ist also aktueller denn je. Auch der Geschichtsrevisionismus, also der Wille, Geschichte bewusst umzudeuten oder vergessen zu machen, wächst. Diese Stolpersteine sind für mich und für uns als Familie neben den vielfältigen zukunftsgerichteten Aktivitäten der Finkelstein Stiftung ein weiterer wichtiger Ausdruck für eine lebendige Erinnerungskultur.“
An der Verlegung nahmen neben Matthias Berninger und Johannes Finkelstein unter anderem Timo Kühn, 1. Bürgermeister der Stadt Krefeld, Sandra Franz, Leiterin des NS-Dokumentationszentrums in Krefeld, Annemarie Hühne-Ramm, Leiterin der Finkelstein Stiftung, Bella Zchwiraschwili, Beiratsmitglied der Finkelstein Stiftung und Leiterin für Stakeholder Engagement beim World Jewish Congress, Wilfried Klein, Geschäftsführer des Gustav-Stresemann-Instituts sowie Rüdiger Borstel, Unternehmenshistoriker der Bayer AG, teil.
Im Rahmen einer gemeinsamen Abendveranstaltung im Historischen Klärwerk stellte Rüdiger Borstel seine persönliche Geschichte der Recherchearbeit zur Akte von Hans Finkelstein vor. Es folgte eine Podiumsdiskussion zum Thema lokale Erinnerung und Engagement in Krefeld.
Erinnerungskultur bei der Bayer AG
Bereits im vergangenen Jahr hatte Bayer einen Erinnerungsort für die Opfer der Zwangsarbeit der damaligen Niederrheinstandorte der I.G. Farben in Leverkusen errichtet – als sichtbares Zeichen in einem aktiven Prozess der Erinnerung. Um eine neue Erinnerungskultur nachhaltig im Unternehmen zu verankern, gründete es neben weiteren Aktivitäten die Finkelstein Stiftung. Sie unterstützt und fördert Projekte zur Rolle der I.G. Farben im Nationalsozialismus und zur Stärkung der Menschenrechte und entwickelt Programme für eine durch historische Verantwortung geprägte Unternehmens- und Führungskultur. Ihr Ziel ist es, die Widerstandskräfte gegen Diskriminierung, insbesondere Antisemitismus, Rassismus und jeglichen Hass zu stärken.
Über Bayer
Bayer ist ein weltweit tätiges Unternehmen mit Kernkompetenzen in den Life-Science-Bereichen Gesundheit und Ernährung. Getreu seiner Mission „Health for all, Hunger for none“ möchte das Unternehmen mit seinen Produkten und Dienstleistungen Menschen nützen und die Umwelt schonen – indem es zur Lösung grundlegender Herausforderungen einer stetig wachsenden und alternden Weltbevölkerung beiträgt. Bayer verpflichtet sich dazu, mit seinen Geschäften einen wesentlichen Beitrag zur nachhaltigen Entwicklung zu leisten. Gleichzeitig will der Konzern seine Ertragskraft steigern sowie Werte durch Innovation und Wachstum schaffen. Die Marke Bayer steht weltweit für Vertrauen, Zuverlässigkeit und Qualität. Im Geschäftsjahr 2023 erzielte der Konzern mit rund 100.000 Beschäftigten einen Umsatz von 47,6 Milliarden Euro. Die Ausgaben für Forschung und Entwicklung beliefen sich bereinigt um Sondereinflüsse auf 5,8 Milliarden Euro. Weitere Informationen sind im Internet zu finden unter www.bayer.com/de
Hans Ludwig Ernst Finkelstein wurde am 17. April 1885 bei Leipzig-Lindenau in eine jüdische Familie geboren. Sein Vater, der Fabrikant Dr. Berthold Finkelstein (geb. 1844), kam aus dem galizischen Brody. Dieser Ort war damals Teil Österreich-Ungarns und liegt heute in der Ukraine. Mit seiner Ehefrau Pauline, geb. Hirsch, und den Kindern wurde er in Leipzig zwischen 1885 und 1900 eingebürgert. Hans besuchte hier das König-Albert-Gymnasium.
Hans Finkelstein wurde 1895 getauft und heiratete die Christin Annemarie, geb. Bruns (geb. 1891). Das Paar bekam drei Kinder: Klaus Peter (geb. 28. November 1913), Eva (geb. 11. Januar 1919) und Johannes Berthold (geb. 23. Dezember 1925). Die gesamte Familie war Teil der evangelischen Kirche.
Im Jahr 1909 promovierte Hans in Straßburg, Teile daraus wurden 1910 in den Berichten der Deutschen Chemischen Gesellschaft veröffentlicht. Die während dieser Arbeit entwickelte „Finkelstein-Reaktion“ ist bis heute in der Chemie ein stehender Begriff.
Ab 1912 arbeitete er als Leiter der Forschungsabteilung der Chemischen Fabriken vorm. Weiler-Ter Meer in Uerdingen. Dieser Betrieb spielte, auch später als Teil der IG Farbenindustrien und nach dem Krieg der Bayer AG, eine wichtige Rolle in der lokalen Wirtschaft.
Gemäß der antisemitischen „Nürnberger Gesetze“ von 1935 galt Hans dem NS-Regime ungeachtet seiner Taufe als „Volljude“, die Kinder als „halbjüdische Mischlinge“. Familienmitglieder berichteten nach der Kriegszeit davon, dass sich seine Vorgesetzten durchaus für ihn einsetzten und ihn so lange sie konnten auf seinem Posten hielten. Annemarie Finkelstein bezeugte nach dem Krieg während dem IG-Farben-Prozess in Nürnberg, dass Fritz ter Meer ihm seinen persönlichen Schutz versprach.
Trotz, oder vielleicht gerade aufgrund, seiner hohen Position, war Finkelstein Ziel von Abhör- und Beschattungsaktionen der Geheimen Staatspolizei. So ist eine Akte erhalten, in der ein Telefongespräch mit einem unbekannten Berliner Gesprächspartner erhalten. Im anschließenden Bericht wird erwähnt, dass Hans Finkelstein bei den IG Farbenwerken „das größte Vertrauen“ genieße. Die Akte schließt 1938 mit Gesprächen der Gestapo mit dem Abwehrbeauftragten des IG-Farbenwerkes, einer Art Verbindungsmann zwischen dem Betrieb und der Gestapo. Dieser teilte mit, dass Finkelsteins „Verbleiben im Werk als Jude nicht mehr tragbar“ sei und bat gleichzeitig darum, dessen Reisepässe einzuziehen.
Der Verlust seiner Position hat in Hans Finkelstein vermutlich den Entschluss gefestigt, seinem Leben ein Ende zu bereiten. Im Dezember 1938 schrieb er der Familie einen Abschiedsbrief, in dem er dies erklärt. Er geht auch auf die Novemberpogrome ein – scheinbar ließen sie ihn zweifeln, ob er seine Familie in der nun gefährlicheren Situation verlassen könne. Doch am 30. Dezember 1938 nahm sich Dr. Hans Finkelstein im Krefelder Südpark mit Gift das Leben.
Aufgrund seiner Einstufung als „halbjüdischer Mischling“ wurde Berthold Ende 1942 von der Schäfer-Voss-Schule, dem heutigen Gymnasium am Moltkeplatz, verwiesen. In einem Interview für die NS-Dokumentationsstelle Krefeld im Jahre 1993 berichtete er, dass der Lehrer Herr Dr. Winzer ihn weiterhin privat kostenfrei unterrichtete.
Von Anfang 1943 bis Herbst 1945 wurde er als Chemie-Hilfsarbeiter u.a. im Uerdinger IG-Farbenwerk zwangsverpflichtet. Im Interview wird vermutet, dass dies auf Betreiben des Direktors Haberland geschah, um ihm noch einen gewissen Schutz vor weiterer Verfolgung zu bieten. Trotz dieser schwierigen Umstände überlebte er mit seiner Familie den Krieg.
Nach Kriegsende begann Berthold 1945 in Bonn zu studieren. Er interessierte sich für Chemie, Theologie und Wirtschaftswissenschaften, erhielt 1953 das Staatsexamen als Diplom-Volkswirt und erlangte abschließend die Promotion. Für die durch Zwangsarbeit verlorene Ausbildungs- und Arbeitszeit erhielt er in dieser Zeit eine Entschädigung von 5.000 DM.
Schon während seines Studiums engagierte er sich für den Austausch und die Verständigung zwischen jungen Menschen in Europa. Er organisierte internationale Treffen und war 1949 an der Gründung des Internationalen Studentenbundes beteiligt, in dem er eine führende Rolle übernahm.
1951 wurde Berthold auf Initiative des belgischen Politikers Paul-Henri Spaak Leiter des deutschen Büros der Europäischen Jugendkampagne. Diese Kampagne, die junge Menschen in den Aufbau eines demokratischen und friedlichen Europas einbeziehen sollte, war für ihn eine Herzensangelegenheit. 1959 führte seine Arbeit zur Gründung des Gustav-Stresemann-Instituts, das er den Rest seines Lebens leitete. Für diesen Einsatz im Sinne des Europäischen Gedankens wurde Berthold Finkelstein u.a. 1985 mit dem Verdienstorden der Bundesrepublik Deutschland ausgezeichnet.
Berthold Finkelstein war mit Gertraude Hinrichs verheiratet, welche er als Mitarbeiterin des GSI kennenlernte. Gemeinsam hatten sie einen Sohn, den Architekten Johannes. Berthold Finkelstein verstarb am 27. Oktober 1996 in Bonn.